Die Abkürzung SIT steht für ,Systemische Interaktionstherapie und -beratung`. Dieser Ansatz wurde von Michael Biene Mitte der 1990er Jahre im Bereich der Jugendhilfe entwickelt und seitdem kontinuierlich verfeinert. Er beansprucht Eltern, die sich aus der Erziehung ihrer Kinder zurückgezogen haben oder trotz Problemmeldungen von Institutionen die Schwierigkeiten ihrer Kinder nicht wahrnehmen und die Zusammenarbeit mit Helfer*innen ablehnen, auf eine neue Weise anzusprechen. Dies geschieht mit dem Ziel, dass sich Eltern (wieder) zuständig für die Erziehung ihrer Kinder fühlen und aktiv und konstruktiv auf ihre Kinder zugehen. Dafür steht den SIT-Mitarbeiter*innen eine Reihe ausgefeilter kommunikativer Strategien und Methoden zu Verfügung, mit deren Hilfe unproduktive Denk- und Handlungsmuster derEltern hinterfragt, neue Bilder und Haltungen initiiert und wirkungsvolle Handlungsschritte eingeübt werden sollen.
Dies, so der Ansatz, kann nur gelingen, wenn die SIT-Mitarbeiter*innen ihre Arbeit mit den Eltern in einer Haltung gestalten, die von deren Zuständigkeit und dem Vorhandensein von Kompetenzen ausgeht, und deshalb Krisen der Familie bzw. Nicht-Gelingen von Veränderung immer auch auf Haltungs- und Methodenfehler der Mitarbeiter*innen zurückführen. Nicht zuletzt deshalb wird SIT als ein voraussetzungsreicher und anspruchsvoller Ansatz begriffen, der nur im Rahmen einer intensiven, mehrjährigen Schulung erlernt werden kann. Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um eine Evaluation des SIT Ansatzes in den Hilfen zur Erziehung, in die mehrere jugendhilfeträger in Nordrhein-Westfalen und Berlin einbezogen wurden. Die Initiative zu der Evaluation stammte von Volker Rhein, dem Geschäftsführer und Leiter des in NRW ansässigen Jugendhilfeträgers Evangelisches Kinderheim Jugendhilfe Herne & Wanne-Eickel gGmbH. Im Zentrum der Evaluation sollte die Frage stehen, inwiefern sich die Lebenslage der Familien verbessert, die Hilfen nach dem SIT-Ansatz wahrnehmen. Seine Idee bestand darin, mehrere Träger einschließlich Jugendämter, die seit längerer Zeit mit dem Ansatz arbeiten, in die Evaluation einzubeziehen. Sie sollte von außenstehenden Wissenschaftler*innen durchgeführt werden. Im Rahmen von Planungsgesprächen zwischen Uwe Uhlendorff, Mathias Schwabe, Matthias Euteneuer und den Leitungen der beiden Träger konnte das Konzept präzisiert und modifiziert werden. Es sollte nicht nur die Wirksamkeit der SIT-Hilfen im Hinblick auf die Verbesserung der Lebenslagen der Familien untersucht werden, sondern auch die Anwendung der SIT-typischen Methoden. Darüber hinaus ging es darum, Fallverläufe im Hinblick auf die theoretisch-konzeptionellen Grundannahmen des Ansatzes zu analysieren und Hypothesen zu den strukturellen Rahmenbedingungen einer nachhaltigen Implementierung zu bilden. Dies bedeutete für die Evaluation, dass quantitative und qualitative Methoden angewendet werden mussten. Versuche, die Evaluation durch die Förderung von Stiftungen zu finanzieren, schlugen fehl, so dass sich die Leitung des Ev. Kinderheims Jugendhilfe Herne & Wanne-Eickel gGmbH entschied, die Evaluation aus eigenen Mitteln zu finanzieren. Das Konzept der Evaluation konnte beibehalten werden, allerdings aufgrund des verminderten finanziellen Rahmens fokussiert auf zwei freie Träger (anstelle auf drei). Dies waren das Ev. Kinderheim Jugendhilfe Herne & Wanne-Eickel gGmbH - der bundesweit größte Träger der SIT-Hilfen - und die JaKuS gGmbH Berlin, bei der das Konzept entwickelt wurde und die am längsten damit arbeitet. Im Frühjahr 2016 konnte so ein vierköpfiges Projektteam bestehend aus Mathias Schwabe, Uwe Uhlendorff, Matthias Euteneuer und David Vust die Evaluationsarbeit aufnehmen. Allen Beteiligten war klar, dass für die Evaluation eine möglichst große Stichprobe von Fallverläufen erforderlich war und die Falldokumentationen von den Wissenschaftlern aufgrund des hohen Aufwandes nicht zu leisten war. Die Dokumentation musste deshalb in die Hände der SIT-Kräfte gegeben werden. In intensiven Arbeitssitzungen, in denen die Wissenschaftler sowie erfahrene SIT-Fachkräfte und Leiter*innen der beteiligten Jugendhilfeeinrichtungen zusammenkamen, konnte gemeinsam ein digitales standardisiertes Dokumentationsverfahren entwickelt werden, das nach einer Pilotphase implementiert wurde und von den Wissenschaftlern ausgewertet werden konnte. Auch zwei weitere Bausteine des geplanten Vorhabens konnten realisiert werden dank der Studierenden der Evangelischen Hochschule Berlin, die unter der Leitung von Mathias Schwabe im Rahmen eines Studienprojektes zum einen eine umfangreiche Telefonbefragung von Ehemaligen durchführten, d. h. von Eltern, die SIT-Hilfen in Anspruch genommen hatten und wo die Beendigung der Maßnahmen einige Zeit zurücklag. Zum anderen konnte das Jugendamt Iserlohn noch mit einbezogen werden. Hier wurden von den Studierenden ebenfalls unter der Leitung von Mathias Schwabe Gruppendiskussionen mit Fachkräften erhoben und ausgewertet. Die Dokumentationsphase startete im September 2016 und endete im März 2018. Daraus ergab sich ein Dokumentationszeitraum von 18 Monaten. In dem festgesetzten Untersuchungszeitraum konnten Daten zu 83 Hilfen generiert werden, darunter 44 Hilfen aus ambulanten Settings, 33 aus stationären Settings und schließlich sechs aus teilstationären Angeboten (5-Tage-Wohngruppe). Insgesamt waren an der Dokumentation mehr als 30 SIT-Fachkräfte beteiligt. Eine kleine Stichprobe von 17 laufenden Fällen interviewten die Wissenschaftler selbst. Das Projekt endete im April 2019 mit einem Fachtag, auf dem die Ergebnisse der interessierten Fachöffentlichkeit präsentiert werden konnte.
Das vorliegende Buch rekapituliert die Hauptergebnisse der Evaluation. Die Gesamtauswertung der Telefonbefragung der Eltern und der Gruppendiskussionen mit den Fachkräften des Jugendamtes Iserlohn liegen als separate Publikationen vor (Schwabe u. a. 2018; Hieke/Vollmer/Schneider 2018). Zentrale Ergebnisse sind allerdings auch in das vorliegende Buch eingeflossen.
Da der SIT-Ansatz noch wenig der breiten Fachöffentlichkeit bekannt ist, werden wir ihn im 1. Kapitel in Grundzügen vorstellen. Dabei werfen wir auch einen Blick auf die unterschiedlichen Settings, in denen mit dem Ansatz gearbeitet wird. Im Verlauf der weiteren Kapitel vertiefen wir immer wieder jene Aspekte des Konzeptes, die wir genauer in den Blick nehmen, insbesondere einzelne Methoden. Das Kapitel 2 beinhaltet detailliert die Ziele der Studie sowie die von uns verwendeten Methoden und gibt Auskunft über das Untersuchungssample. In Kapitel 3 geht es um die Wirksamkeit der SIT-Hilfen im Hinblick auf die Verbesserung der Lebenslage der Familien sowohl aus Sicht der Fachkräfte als auch der der Eltern. Da sich dies anhand der Ausgangslage der Familien bemisst, werden wir deren Belastungen zum Zeitpunkt der Aufnahme in die SIT-Hilfe detailliert darstellen (3.1 und 3.2). Wir haben dabei nicht nur im engeren Sinne jugendhilferelevante Kategorien berücksichtigt,die sic h von den unbestimmten Rechtsbegriffen (‚Kindeswohl', ‚erzieherischer Bedarf) ableiten lassen, sondern auch andere, wie Gesundheit der Eltern und Kinder, Paarbeziehung, Alltagsorganisation, Zustand des Haushalts, berufliche und finanzielle Situation. Die Evaluation richtete sich nicht nur auf eine mögliche Verbesserung der Lebenslage in den relevanten Kategorien, sondern auch auf jugendhilferelevante und teilweise auch ,ökonomische' Effekte, wie Vermeidung von (kostenaufwendigen und einen starken Eingriff in die Familie darstellenden) Fremdunterbringungen, das Verhältnis von Hilfedauer und Erfolg, Erreichung der Hilfeplanziele etc. Das 4. Kapitel beleuchtet die Verlaufsdynamiken von 80 Fällen in dem Untersuchungszeitraum von 18 Monaten. Da wir hier auch untersuchen, inwiefern sich das dem SIT-Konzept zugrundeliegende ‚Drei-Phasen-Modell' in den Arbeitsprozessen abbildet, stellen wir es zunächst vor (4.1). Um zu analysieren, in welchem Umfang die drei Phasen, die im Sinne der Programmatik aufeinander folgen, von den Eltern und Fachkräften bewältigt werden, haben wir zu jeder Phase bestimmte Meilensteine definiert, die sich von dem theoretischen Modell ableiten und zugleich mit Hilfe unserer erhobenen Daten in den Blick nehmen lassen. Mithilfe der Falldokumentationen ließ sich relativ leicht bestimmen, ob und in welchem Zeitraum die einzelnen Meilensteine erreicht wurden. Durch systematische Fallvergleiche konnten wir vier Fallverläufe typisieren (Kap. 4.2) und zeigen, inwiefern sie mit dem theoretischen Modell übereinstimmen bzw. von diesen abweichen. Mit Hilfe der Meilensteineließen sich die einzelnen Arbeitsphasen genauer unter die Lupe nehmen, abschätzen, inwieweit sie ,erfolgreich` durchlaufen wurden und wie Eltern die einzelnen Phasen des SIT-Prozesses erleben (Kap. 4.3). Zu der Frage, wie die einzelnen Methoden des SIT-Ansatzes aus Sicht der Fachkräfte und der Eltern wirken, gibt das Kapitel 5 Auskünfte. Wir konzentrieren uns dabei auf folgende Methoden: Zielplakate (5.1), Rückmeldungen im Alltag (5.2), Rollenspiele (5.3), Elterngruppen (5.4) und Unterstützung durch das Team (5.5). Schließlich beleuchten wir in Kapitel 6 die institutionellen Voraussetzungen, die gegeben sein müssen, um den SIT-Ansatz bei freien und öffentlichen Jugendhilfeträgern aber auch trägerübergreifend erfolgreich zu implementieren. Im Mittelpunkt stehen hier die Erfahrungen mit der Etablierung des Ansatzes im Jugendamt Iserlohn, das seit knapp zwanzig Jahren systematisch alle ASD-Fachkräfte in der SIT-Arbeit ausbilden lässt. Das Kapitel 6.2 schildert die damit verbundenen Gewinne aus Sicht der Leitungskräfte und der ASD-Mitarbeiter*innen. Wir greifen dabei nicht nur die durch die Studierenden durchgeführten Gruppendiskussionen auf, sondern belegen die Erfolge auch durch offizielle Statistiken, wie sie im Rahmen des Benchmarks Hilfen zur Erziehung+ aufbereitet wurden (Bolte et al. 2016, 2018).
Die Durchführung der Evaluation wäre ohne die großzügige Unterstützung des Ev. Kinderheims Jugendhilfe Herne & Wanne-Eickel nicht zustande gekommen. Wir danken dem Geschäftsführer und Leiter Volker Rhein für sein Engagement und seine tatkräftige Unterstützung. Für die Implementierung war, da viele Fachkräfte und Angebote beteiligt waren, eine intensive Koordination unerlässlich. Wir danken hierfür Frauke Runkel, die diese z. T. schwierige Aufgabe bravourös gemeistert hat. Hilfreiche Unterstützung bei der Implementierung der Dokumentation erfuhr das Projekt durch die Heim- undErziehungsleiter*innen des Ev. Kinderheims Jugendhilfe Herne & Wanne- Eickel gGmbH. Dank sei auch allen Mitarbeiterinnen aus Herne und Berlin, die uns in mehreren Workshops bei der Erstellung der Dokumentationsbögen sowie im Hinblick auf deren Implementierung beraten haben. Ohne Vollständigkeit zu erlangen seien hier stellvertretend genannt: Jan Scholly, Frank Pawlak, Thekla Pawlak, Thomas Paluszek, Andreas Wunsch, David Marlog und Yvonne Rauscher. Den technischen Support bei der Onlinebereitstellung der Falldokumentationen leistete Stefan Reinders, der allen beteiligten Fachkräften beratend zur Seite stand. Für die Durchführung der Evaluation in Berlin bei der JaKuS gGmbH Berlin standen uns Uwe Töppen, Wiebke Dembski-Minßen und Frieder Moritz hilfreich zur Seite. Uwe Töppen war für uns ein zuverlässiger Partner bei der Koordinierung der Studie. Allen drei sei Dank geschuldet. Ein ganz besonderer Dank richtet sich an alle Fachkräfte, die die aufwändigen Dokumentationen neben den alltäglichen Arbeitsbelastungen durchgeführt haben.
Ohne die Unterstützung der Studierenden wäre die •Studie nicht realisierbar gewesen, wir bedanken uns bei Anne Flamming, Cedrik Wieschollek, Sara Keilholz und Greta Golbereg von der TU Dortmund und bei Sarah Hieke, Adrian Schneider und Johannes Vollmer sowie Alexander Busse, Kerstin Fulton, Sven Haan und Bernhard Pregartner von der Ev. Hochschule Berlin. Unser größter Dank richtet sich schließlich an die mehr als 200 Eltern, die uns Auskunft gegeben haben über ihre Erfahrungen mit SIT, aber auch über ihr Leben, über ihre Leidenserfahrungen und schließlich auch immer wieder über ihre beglückenden Momente beim Lernen mit und durch SIT. Ohne ihre Offenheit wäre diese Studie nicht zustande gekommen.
Dortmund und Berlin, Frühjahr 2020
Matthias Euteneuer, Mathias Schwabe, David Vust und Uwe Uhlendorff