Prof. Dr. Richard Günder schreibt:
In der Ausgabe Februar/2012 des „Sozialmagazin“, die Zeitschrift für Soziale Arbeit, erschien als Erstveröffentlichung eine Rezension von Herrn Prof. Dr. Richard Günder über das vor kurzer Zeit erschienene Buch: „Moderne Heimerziehung heute“ Band 2 u. 3. Herausgeber Volker Rhein, Geschäftsführer der Ev. Kinderheim Jugendhilfe Herne & Wanne-Eickel gGmbH. Herr Prof. Dr. Richard Günder hat einen Lehrstuhl an der Fachhochschule Dortmund, Fachgebiet: „Angewandte Sozialwissenschaften“ und gilt als einer der Koryphäen auf seinem Gebiet.
Die komplette Rezension wurde uns vom Julius Beltz Verlag zur Veröffentlichung freigegeben. Dafür herzlichen Dank.
Rezensionstext :
Rhein, Volker (Hrsg.): Moderne Heimerziehung heute.
Band 2 und Band 3. Die systemische Interaktionstherapie und die Psychomotorik in der Intensivpädagogik. Frisch Texte Verlag, Herne 2011, 369 Seiten, 29,95 Euro
Unterschiedliche Evaluationsstudien belegen, dass nachhaltige pädagogische Erfolge in der stationären Erziehungshilfe zu erzielen sind, wenn in den Einrichtungen ein hoher professioneller Standard realisiert wird.
Das hier vorliegende Buch zeigt modellhaft zwei methodische Ansätze für die Heimerziehung auf: die systemische Interaktionstherapie sowie die Psychomotorik in der Intensivpädagogik.
Die Rezension bezieht sich nur auf Band 2 der Neuerscheinung, auf die systemische Interaktionstherapie (S. 13 – 187):
Im ersten Teil des Bandes stellt der Autor Michael Biene den von ihm entwickelten system- und interaktionstherapeutischen Ansatz, das SIT-Modell, vor: Die Inhalte des SIT-Modells sollen bei Kindern und Jugendlichen mit Jugendhilfebedarf eine optimale Förderung durch ihr Umfeld (Familie/Jugendhilfe) bewirken, indem Eltern, weitere Angehörige
sowie das Jugendamt aktiv in den Hilfeprozess einbezogen werden. Schwierigkeiten und Probleme der angesprochenen jungen Menschen werden nicht individualbezogen erklärt und zu verstanden gesucht, sondern lebensweltorientiert als das Resultat von Beziehungsmustern und Rollenzuweisungen interpretiert.
Die Eltern werden als die wichtigsten Bezugspersonen und zugleich auch als bedeutende Experten ihres Kindes wertgeschätzt.
Durch intensive teilnehmende Beobachtungen werden Interaktionen zwischen Eltern, Kind und zugleich auch anderen helfenden Systemen gemeinsam interpretiert, so dass Eltern in die Lage versetzt werden, ihr eigenes Verhalten in Schlüsselsituationen zu hinterfragen, zu überprüfen und auch zu revidieren.
Wesentlich ist hierbei die professionelle (Zurück-)Haltung der Fachkräfte, die es den Eltern in vielen Fällen erst ermöglicht, zu eigenen Einsichten und Veränderungsabsichten zu gelangen.
Michael Biene beschreibt detailliert und gut nachvollziehbar die Entstehung des SIT-Modells, dessen theoretische Einordnung und vor allem die Schrittfolgen und Handlungsabläufe in den einzelnen Phasen der Systemaktivierung.
Zielsetzung der systemischen Interaktionstherapie ist primär, Eltern in die Lage zu versetzen, ihre eigenen Ressourcen zu erkennen, diese zu entwickeln und besser in der Erziehung ihres Kindes zur Geltung bringen zu können. Etwas gewöhnungsbedürftig sind neue Begrifflichkeiten des Konzepts, wie Musterarbeit, Abgabemuster, Problemtrance, Pacing und Leading.
Im zweiten, weniger umfangreichen Teil des Bandes berichten Volker Rhein und Ulrich Klaß über die Umsetzung des SIT-Modells in die Praxis ihrer Institution der stationären Erziehungshilfe. Nach einer spezifischen Ausbildung der Fachkräfte wurde der Ansatz der systemischen Interaktionstherapie sowohl in stationären als auch in ambulanten Bereichen umgesetzt: Der familienaktivierende Arbeitsansatz kommt für Familien mit mangelnder Erziehungskompetenz zur Anwendung. Angestrebt werden akute und längerfristige Problemlösungen, vorhandene Ressourcen sollen gestärkt werden. Unterschiedliche Methoden werden nach den Bedürfnissen der Familie ausgewählt. Das Methodenrepertoire enthält Rollenspiele, Videotraining, Wahrnehmungstraining zur Selbst- und Fremdwahrnehmung, Kommunikationstraining, Live-Begleitung, Teilnahme an Elterngruppen, Teilnahme an Partnergesprächen, Übungen zur Kontakt- und Beziehungsaufnahme.
Die jeweilige Dauer der systemischen Interaktionstherapie orientiert sich an Besonderheiten des Einzelfalles. Die Eltern erfahren in ihren defizitären Alltagssituationen Begleitung und Anleitung, sie erleben feste Tages- und Wochenstrukturen. Wenn sie in der Verbindung mit Elterntrainings zunehmend selbst- und handlungssicherer werden, kann die sozialpädagogische Begleitung und Unterstützung mehr und mehr im häuslichen Umfeld der Familie stattfinden.
In diesem Band zur systemischen Interaktionstherapie wird sehr eindrucksvoll und überzeugend aus Sicht der Theorie, der Ausbildung und vor allem der Praxis dargestellt, wie ein neues Modell der Elternaktivierung im Methodenspektrum von Jugendhilfeinstitutionen implementiert werden kann, wie es gelingt, zu nachhaltigen Erfolgen zu gelangen und insgesamt zur Erhöhung der Professionalität beizutragen.