Prof. Dr. Uwe Uhlendorff bei https://www.ev-kinderheim-herne.de/veroeffentlichungen/moderne-heimerziehung-heute-band-4/rezension-zu-moderne-heimerziehung-heute-band-4-von-prof-dr-uwe-uhlendorff/ schreibt:
Eine Rezension von Prof. Dr. Uwe Uhlendorff. Technische Universität Dortmund
Universitätsprofessur für Sozialpädagogik mit dem Schwerpunkt Fachdidaktik der Sozialpädagogik an der Technischen Universität Dortmund
Seit den 90er Jahren ist eine regelrechte Explosion verschiedener Konzepte von Elternkursen und Elterntrainings zu verzeichnen. Hinter Titeln und Akronymen wie EFFEKT, Eltern-AG, Eltern Coaching, Eltern Stärken, Erziehungsführerschein, Familien Team-Elterntraining, FuN, HIPPY, KESS-erziehen, Opstapje, FET/PET, PALME, PPP-Triple, SAFE, Starke Eltern – starke Kinder, STEEP oder STEP verbergen sich Elternkurse und Trainings, die auf teilweise sehr unterschiedlichen Theorieansätzen basieren, unterschiedliche Zielgruppen ansprechen sowie unterschiedliche methodische Besonderheiten aufweisen. Der Trend geht insbesondere hin zu standardisierten Programmen, was insbesondere im Hinblick auf deren „monopolistische Vermarktung“ kritisch gesehen werden kann. In den Hilfen zur Erziehung haben überwiegend systemische und lerntheoretische Ansätze der Elternaktivierung bzw. Elternarbeit Eingang gefunden. Der Fortbildungssektor hat sich mittlerweile sehr gut darauf eingestellt, aber auch der Büchermarkt mit einer schier unüberschaubaren Zahl an Handreichungen. Bisher fehlen Studien, die die Umsetzung der Methoden in den sozialpädagogischen Alltag der Hilfen zur Erziehung sowie die Praxiserfahrungen beleuchten. Eine besondere Schwierigkeit für das Leitungspersonal und die Fachkräfte von sozialpädagogischen Einrichtungen besteht darin, die auf Fortbildungen vermittelten Methoden in der eigenen Einrichtung umzusetzen, sie an die Gegebenheiten anzupassen und weiterzuentwickeln. Der Herausgeberband von Volker Rhein nimmt sich genau dieser Herausforderung an. Im Zentrum des Buches steht die Praxis der „Elternaktivierung“ der Ev. Jugendhilfe Herne und Wanne-Eickel. Hier wurde über mehr als zehn Jahre hinweg auf der Basis der „Systemischen Interaktionstherapie“ nach Michael Biene (Begründer und ehemaliger Leiter des stationären familientherapeutischen Projekts Triangel in Berlin) in unterschiedlichen Angeboten und Projekten elternaktivierend gearbeitet. Dabei wurde dieses Konzept nicht nur implementiert, sondern auch weiterentwickelt. Der Herausgeberband versammelt eine Reihe von Beiträgen, die die Praxiserfahrungen aus verschiedenen Projekten und Perspektiven beleuchten. Die Autoren sind oder waren Mitarbeiter der Ev. Jugendhilfe Herne und Wanne-Eickel, aber auch der Begründer des Ansatzes, Michael Biene, kommt zu Wort.
In dem ersten Beitrag (von Michael Biene/ Thomas Paluszek/ Mathias Schwabe) wird das Konzept der Systemischen Interaktionstherapie prägnant dargestellt und die Arbeitsweise anhand von zwei Fallbeispielen veranschaulicht. Es zeigt sich, dass der Ansatz im Jugendhilfekontext und weniger im klassischen familientherapeutischen Setting entwickelt wurde. Die Autoren gehen von z.T. provokanten Thesen aus: Eltern wollen aktiv sein – sie wollen ihre Probleme und die ihrer Kinder selbst angehen und lösen. Wenn Eltern im Hilfeprozess inaktiv sind, ist dies in erster Linie durch Rollenzuweisungen im Hilfeprozess bedingt. D.h. ursächliche Faktoren für die Inaktivität oder Aktivität von Eltern im Hilfeprozess können vor allem Beziehungsmuster zwischen Fachkräften und Eltern sein (S. 20). Entscheidend für die Art der eingesetzten Hilfe ist meist die fachliche Orientierung im Hilfesystem, weniger die Symptomatik der Familie. Eltern brauchen Angebote, die ihnen eine aktive Rolle einräumen. Einige dieser Thesen sind nicht neu, sie wurden, in Folge der Rezeption der Interaktionstheorie bzw. des Labeling Approach Anfang der 1970er Jahre, kritisch auf die Verhaltens-Zuschreibungspraxis der Jugendämter angewendet. Neu und weiterführend an dem Ansatz ist, dass er typische Grundmuster aufzeigt, die die Selbstaktivität der Eltern sowie die produktive Zusammenarbeit zwischen Helfern und Familie blockieren und zu einer „Scheinkooperation“ führen; und dass er Methoden bereitstellt, die zu einem Kooperationsmuster führen und dabei die Eltern in ihrer Selbstaktivität stärken. Im Unterschied zu vielen systemischen Ansätzen richtet sich das Augenmerk nicht nur auf das Familiensystem, sondern auch auf Helfer-Klienten-System. Diese Perspektive ist innovativ und, wie die Beiträge im Anschluss zeigen, aus sozialpädagogischer Sicht sehr produktiv. Die Autoren unterscheiden zwei Grundmuster: Das „Kampfmuster“ ist von folgenden „Glaubensätzen“ der Familie geprägt: „Es gibt in unserer Familie keine Probleme. Unser Problem sind familienexterne Personen, die uns die Probleme einreden und Druck ausüben. Wir brauchen keine Hilfe, was uns stört, sind die ´Übergriffe` der Fachleute.“ (S. 21). Dem stehen die Glaubenssätze der Fachkräfte konträr gegenüber: „Es gibt erhebliche Probleme in der Familie, sie sollte das einsehen. Die Problemdefinitionen der externen Personen sind richtig. Die Familie sollte das einsehen. Es braucht dringend eine Hilfe durch Fachpersonen. Die Familie sollte die Hilfe ´annehmen` und mitarbeiten.“ (S.22) Das Abgabe-/Abnahmemuster speist sich dagegen aus den Glaubenssätzen: „Unser Kind hat Probleme. Wir als Eltern können damit nicht angemessen umgehen. Es gibt Fachleute, die diese Probleme lösen können.“ (S. 24) Die Fachkräfte denken ähnlich: Das Kind ist problematisch. Die Eltern sind überfordert. Das Kind braucht professionelle Hilfen. Der Ansatz geht von der These aus, dass sich diese Grundmuster verfestigen und zu langjährigen erfolglosen „Jugendhilfekarrieren“ führen. Anhand von zwei Fallgeschichten zeigen die Autoren, wie mit Hilfe des Ansatzes die beiden blockierenden Grundmuster in eine Kooperationsbeziehung transformiert werden. Wichtige Ansatzpunkte sind dabei die sogenannte „Musterarbeit“, bei der positive Gegenbilder (Glaubenssätze) mittels einer bestimmten Gesprächsführung entwickelt werden. Die Fachkräfte vermitteln dabei den Eltern, dass sie selbst Experten der Erziehung ihrer Kinder sind. Ausgehend von den Eltern wird ein „Zielplakat“ gestaltet. Mittels Rollenspielen, Videoanalysen, „Live-Coaching“ und anderen, familiensystemischen Ansätzen entnommenen Methoden wie der Familienaufstellung werden neue Handlungsmöglichkeiten der Eltern entwickelt. Besonders lobenswert ist, dass bei den beiden Fallanalysen die Fallgeschichte nicht nur von der Fachkraft der Einrichtung und des Jugendamtes, sondern auch von den Klienten selbst rückblickend kommentiert wird. Dadurch werden die verschiedenen Sichtweisen auf den Hilfeverlauf besonders gut deutlich. Der Beitrag von Biene/Pauszek /Schwabe liest sich (trotz der Länge von 90 Seiten) hoch spannend. Der Ansatz überzeugt, weil er nicht nur auf interaktionstheoretisch basierte Konzepte zurückgreift, sondern auch auf langjährige eigene (Leid-) Erfahrung als Professionelle in der Jugendhilfe und einer kritischen Selbstreflexion aufbaut. Der Aufsatz wirft aber beim Lesen zentrale Fragen auf: Der methodische Ansatz scheint besonders auf Familien zugeschnitten zu sein, die auf einen langen mehr oder weniger erfolglosen Hilfeprozess zurückblicken. Kann dieser auch bei Familien angewendet werden, die sich weder im Kampf- noch im Abgabe-/Annahmemuster verfangen haben? In welchen Bereichen der Hilfen zur Erziehung kann das Konzept umgesetzt werden? Wie sieht die Kooperation zwischen Jugendhilfeträger und Jugendamt aus (das in dem Helfersystem eine entscheidende Rolle spielt)? Wie und mit welcher Unterstützung gelingt es den Fachkräften, die schon Familienarbeit einer Einrichtung leisten und ein ausgeprägtes professionelles Selbstverständnis haben, das Konzept zu adaptieren und zu implementieren? Diese Fragen werden beim Weiterlesen beantwortet.
In dem folgenden Beitrag gibt Volker Rhein (pädagogischer und wirtschaftlicher Geschäftsführer des Ev. Kinderheims, Jugendhilfe Herne & Wanne-Eickel GmbH) einen Überblick wie, in welchen Bereichen der Einrichtung und unter welchen rechtlichen Rahmenbedingungen mit dem SIT-Konzept (Systemisch-interaktionelle Therapie und Beratung) gearbeitet wird. Es zeigt sich, dass das Modell nicht nur bei Familien, die auf einen „verfestigten“ langjährigen Hilfeverlauf zurückblicken, sondern auch bei anderen Familien eingesetzt wird. Insgesamt bietet der Träger neun unterschiedliche elternaktivierende Angebote auf der Grundlage des SIT-Ansatzes an: Im stationären Bereich (u.a. im Eltern-Kind-Haus und der 5-Tage-Wohngruppe), in ambulant/teilstationären Hilfen (wie der Flexiblen Betreuung, Arbeit mit Familien mit essgestörten Kindern, Sozialen Gruppenarbeit mit Eltern sowie der Tagesgruppe in der Schule). Der Ansatz wurde teils in das versäulte System der Hilfen zur Erziehung eingegliedert, teils wurden aber auch gleichsam querliegende Angebote geschaffen, wie z.B. die Elternaktivierung durch Soziale Gruppenarbeit mit Eltern und deren Kindern (auf der Grundlage von §§ 29 und 31 SGB VIII). Zu vermuten ist, dass der Träger erhebliche Überzeugungsleistungen beim zuständigen Jugendamt erbringen musste. Schade, dass darüber nichts gesagt wird, wie die Innovation von der Leitung des örtlichen Jugendhilfeträgers anfangs aufgegriffen wurde.
Letzteres wird ansatzweise in dem daran anschließenden Bericht von Sabrina Rabe-Lipp (Erziehungsleiterin) deutlich. Sie beschreibt, wie sie aus der Wohngruppe für Jugendliche mit essgestörtem Verhalten heraus ein ambulantes Konzept für die Elternaktivierung entwickelt hat. An einem spannenden Fallbeispiel erläutert sie, wie die Zusammenarbeit mit Eltern, Jugendlichen, Psychotherapeuten und der ASD-Fachkräften gestaltet werden kann. Dabei verwendet sie Auszüge aus ihren Elterngesprächen, die die Gesprächsführung des SIT-Ansatzes sehr gut verdeutlichen. Das Fallbeispiel macht auch die Grenzen des Ansatzes deutlich.
Außergewöhnlich ist der Beitrag von Kristina Sollich, ehemalige Erziehungsleiterin in der Einrichtung. In Form eines biografischen Berichts beschreibt sie, wie sie das in der SIT-Fortbildung Gelernte in ihrer praktischen Arbeit umgesetzt und im Hinblick auf ihr professionelles Selbstbild adaptiert hat. Sie gibt einen Einblick, wie sich das professionell-biografische Selbstverständnis auch trotz langjähriger Erfahrung als Familientherapeutin und Supervisorin im Rahmen einer Fortbildung verändern kann. Die Autorin beschreibt anhand eines Fallbeispiels zentrale Schlüsselerlebnisse, die sie mit dem Ansatz gemacht hat.
Wie das SIT-Konzept in der flexiblen Betreuung gestaltet wird, kann man dem Beitrag von Marianne Buch entnehmen. Insbesondere wird hier die Elterngruppenarbeit sehr gut beschrieben, nicht nur von der Autorin selbst, sondern auch von einer Mutter, die an dem Kurs teilgenommen hat und über ihre Erfahrungen berichtet.
Die letzten beiden Beiträge „Körperarbeit mit essgestörten jungen Frauen innerhalb einer stationären Einrichtung“ von Olympia Kirchberg und „Kampf um Anerkennung – eine sozialphilosophische Konflikt-Theorie und ihre Bedeutung für die Sozialpädagogik in der Jugendhilfe“ von Mathias Schwabe sind lehrreich und theoretisch sowie im Hinblick auf die Praxis sehr aufschlussreich. Allerdings fehlt der Bezug zu dem eigentlichen Thema des Buches, was die Autoren sicherlich leicht hätten herstellen können.
Kritisch anzumerken bleibt folgendes: In den Fallbeschreibungen der PraktikerInnen tauchen gelegentlich Begriffe auf, die für Außenstehende nicht verständlich sind, oder sich nur aus dem Kontext erschließen lassen (pacen, chunken, triggern). Diese Begriffe hätte man erläutern müssen, vielleicht kann man auch auf solche Sprachspiele in einer Veröffentlichung verzichten (man kann den Text auch ohne derartige Anglizismen gut verstehen). Bei den Fall-Analysen fällt auf, dass die beiden Muster (Kampf- und Abgabe-/Annahme-Muster) nur auf das Eltern-Helfer-System analytisch angewendet wurden. Einige Fallbeschreibungen machen aber deutlich, dass sich das Kampfmuster im Eltern-Kind-Helfersystem verfestigt hat (während bei dem Eltern-Helfer-System das Abgabe-/Abnahmemuster vorherrscht). Bei der Weiterentwicklung des Modells könnte die Analyse des Eltern-Kind-Helfer-Systems stärker ins Blickfeld gerückt werden. In dem Buch hätte man sich ein selbstkritisches Schlusswort gewünscht, in dem die Grenzen des Konzepts deutlich gemacht werden. Auch bleibt die Frage offen, ob in anderen Einrichtungen ebenfalls mit dem SIT-Ansatz gearbeitet wird und wenn ja, mit welchen Erfahrungen.
Alles in Allem handelt es sich um ein sehr lesensreiches Buch, das man insbesondere Fachkräften, die in den Hilfen zur Erziehung, im ASD oder der Familienbildung tätig sind, sowie Studierenden der Sozialen Arbeit wärmstens empfehlen kann. Ein weiterer Band, der die Ergebnisse einer Evaluation des Konzeptes darstellt, wäre aus fachpolitischer Sicht sehr wünschenswert!
Uwe Uhlendorff. Technische Universität Dortmund.